DER GLÄSERNE TÜRKE

An einem sonnigen Sonntag im Mai begegnet ihnen auf einem Bürger­steig, der eine Schöneberger Hauptverkehrsstraße säumt, ein schätzungsweise 55 Jahre alter Mann augenscheinlich südländischer Herkunft in grauem Anzug, der raucht. Die deutsche Sprache, fast so kompliziert und tückisch wie ein türkisches Schicksal, suggeriert einen rau­chenden Anzug, jedoch: Es raucht der Mann. Die Zigarette hält er furcht­sam zwischen Daumen und Zeigefinger, die Glut in der schützenden Höhlung der Hand, damit der Nichtsnutz Wind ihm nicht den Tabak schmaucht. Seine angepasste Erscheinung, schon verräterisch genug, hätte nicht so viel über ihn erzählen können, wie diese Gewohnheit. Der Mann ist ein offenes Buch. Aufgrund einer einzigen Beobach­tung wissen wir, was mit diesem Mann los ist. Die Tatsache, dass er auf diese Art und Weise raucht, lässt zweifelsfrei auf eine Herkunft aus einfachen Ver­hältnissen schließen. Dieser Mann hat die Armut noch gekannt, ehe er sein Vaterland verließ, um im Wirtschaftswunder-Deutschland neureich zu werden. Dieses einst beliebte Lebensziel hat er zweifelsohne verfehlt, denn sonst wäre er längst wieder in seine Heimat zurückgekehrt, um sich am Bosporus die Haare nach Landesart aus den Ohren und der Nase brennen zu lassen. Eine Familie hält ihn auch nicht hier, denn türkische Familien spazieren an sonnigen Sonn­tagen nicht in Personalunion des Familienvaters die Hauptstraße entlang. Den grauen Anzug, seinen einzigen natürlich, trägt er ausschließlich am heiligen Tag. Und er raucht. Nein, der Mann hat keine Familie. Vielleicht hat er sogar sein Leben lang nicht eine Frau besessen. Wie gesagt, er raucht. Wahrscheinlich ist er sogar impotent. Oder er hat eine deutsche Frau, die sonntags Fußball spielt. Oder er hatte eine Frau und Familie, hat sie aber abgemurkst, als sie ihm seine geliebten Sonntagsspazier­gänge auf der Hauptstraße vermaledeien wollten. Oder er stammt aus einer japanischen Roboterfabrik und wirkt nur deshalb so gut integriert. Wie gesagt, der Mann ist ein offenes Buch.

NICHT VON PAPPE – DIE POSTKARTENSAMMLUNG DER GEBRÜDER KARASSOW

von Sönke Lars Neuwöhner und Roland Oelfke

  1. Karte: (Bob Karassow, Abb.: Ein schwarzer Mann beim Longdrink)
    Mein lieber Ilja Karassow! Ich weiß, ich hatte Dir versprochen, zu Deinem Geburtstag in Rom einzutreffen, aber die Arbeiten an meinem neuen Werk »Die Er­findung der Korrespondenz« haben mich völlig in Anspruch genommen. Es soll, zum ersten Mal in meiner Karriere, ein anspruchsloses Werk werden. Bitte keinen Widerspruch! Jolassa hat sich schon wieder verliebt. Ich sehe ihn nur noch lächeln, aber eigentlich sehe ich ihn gar nicht mehr. Wie geht es Tommasow? Und Dir? Verzeih. Ich werde spätestens im Mai zu unserer gemeinsamen Reise bereit sein. Grüße Deine Frau und denke bitte daran, mir die Photographie von dieser sehr talentierten Schauspielerin zu schicken, von der Du so schwärmtest. Vielleicht kann ich hier in Tanger etwas für sie tun. Wie immer – Bob.

Bemerkung: Die Reise, von der hier die Rede ist, und die die Brüder Karassow Zeit ihres Lebens planten, aber nie antraten, sollte ans Ende der Jacht gehen. Warum die Reise niemals zustande kam, ist unklar. Vielleicht lag es daran, dass Ilja Karassow eher ein mobiler Typ, Bob Karassow eher ein Herumtreiber war. 

  1. Karte (Ilja Karassow, Abb.: Eine bemerkenswert braune Ingrid Bergman)
    Mann, Mann, Mann, Bob, ich bin aus dem Alter raus, ich kann Dir sagen! Anfangs ließ sich ja alles ganz nett an mit Claire, so durch Trastevere spazieren und in diversen Stadtbrunnen baden und so. Aber schau Dir das Foto an (Du wolltest es ja unbedingt haben), und Du wirst verstehen: Diese Frau ist langfristig der gebräunte Horror. Jeden Tag in diesem gottverdammt heißen Rom rennt die ins Solarium, und bevor sie zu mir ins Bett steigt, steht sie stundenlang vor dem Spiegel und legt drei Schichten Nachbräunungspaste auf. Naja, jetzt ist es vorbei, Anna hat es spitzgekriegt und mich rausgeworfen. Ich wohne jetzt im Hotel. Tommasow hat auch schon den Rappel gekriegt und ist abgehauen, nach Stockholm glaube ich. Vielleicht folge ich ihm nach. Wie läuft es mit Deinem Buch? Wann sehen wir uns? Und wo? Dein Bruder – in Öde – Ilja K. 
  2. Karte (Bob Karassow, Abb.: Die »Deutschland« – ein Spielzeugautomobil)
    Mein lieber Ilja! Ich bin nach wie vor zuversichtlich, dass das Buch bis Juni beim Drucker ist und wir unsere gemeinsame Reise antreten können. Olle Oelfke, diese bourgeoise Ausgeburt der süßen Ingrid, machte neulich etwas Trara und meinte, es sei ihm ein bisschen viel, meine Post nach Tanger zurückzuschicken. Oder vor? Trotzdem, handwerklich ist der Mann ein Genie. Aus meinen alten Manschettenknöpfen und einem Toaster hat er die »Deutschland« (siehe Foto) gebaut. Und: Sie fährt! Es müsste also klappen, haha. Tja. Tja, die Frauen. Aber es kann ja nun jeder von Natur aus Neger sein. Küsse von – Wie immer, Bob.

Bemerkung: Hier über- bzw. untertreibt Bob Karassow. Zum Bau der »Deutschland« habe ich keineswegs einen Toaster benutzt, sondern einzig und allein die Manschettenknöpfe Ilja Karassows. Dass ich ein handwerkliches Genie sei hingegen ist eine böse Untertreibung. Im Übrigen liegt Bob Karassow in dieser Karte völlig schief, und das hat er seiner Schwerhörigkeit zu verdanken. Meine Mutter z. B. heißt nicht Ingrid, sondern Inge. 

  1. Karte (Ilja Karassow, Abb.: Junger Mann mit Rehlein, verwundet)
    Jaja, Bob, keine Vorwürfe, ich bin abgehauen. Seit der Sache mit der Schauspielerin verweigert Rosanna mir den Eintritt in die Wohnung (die zu allem Unglück ihre ist); den Job an der Akademie, der mir eh zum Halse raushing, habe ich ebenfalls aufgegeben, und diese Stadt ist mir ohnehin viel zu heiß. Ich verstehe nicht, wie Du es da unten aushältst und auch noch denken und arbeiten kannst. Ich jedenfalls werde erstmal Mama in St. Petersburg besuchen, sie schimpft so über uns Kinder! Wie geht es Jolassa? Und wann fahren wir endlich – ins Weite? Du weißt – ich bin jetzt frei! Das heißt: fast. Ich weiß noch nicht, was aus dem Angebot wird, das mir Tommasow gemacht hat. Er ist jetzt in Stockholm und brütet dort etwas aus. Braucht unbedingt meine Hilfe. Verspricht wahnsinnig viel Geld. Naja, Du kennst ihn ja. Erstmal Arrivederci, Dein Ilja.
    P.S.: Übrigens Gruß an ollen Oelfke, haha.
  2. Karte (Ilja Karassow, Abb.: Sergei Burylin, »Fabric with Emblem and Ear«)
    Lieber Bob! Mutter hat noch immer die alten Tapeten an den Wänden, Hammer und Sichel auf jedem Quadratzentimeter, aber trotzdem: Die Zeit ist auch an ihr nicht spurlos vorübergegangen. Um zu überleben, vermietet sie unsere beiden Zimmer an devisenwedelnde Touristen. Ja, ich musste in der Küche schlafen… Das Schlimmste aber ist ihre Nörgelei, besonders Dich hat sie im Visier: Du schreibst nie, Du schickst Deiner armen alten Mutter keine Dollar, Du treibst Dich rum, usw., usw. Von mir glaubt sie, ich würde immer noch in Rom der ordentlichen Tätigkeit eines Akademielehrers nachgehen, naja, man muss auch Schweigen können. Unser altes Leningrad würdest Du wiedererkennen, es hat sich nämlich wenig verändert, auch wenn es jetzt Petersburg heißt. Also, Bruderherz, erst einmal Nastrowje und bis bald, Dein Dr. Ilja.
  3. Karte (Bob Karassow, Abb.: Comic »Raucher haben die besseren Mösen im Kopf, dachte Keppler«)
    Mensch, Ilja! Es geht alles drunter und drüber. Du sollst Hammer und Sichel ähren, Mutter solltest Du grüßen und ihr endlich die verdienten Dollar bringen. Aber auf dem Weg zur neuen Ausstellung des Reichsschamhaarmalers Franz Keppler (besser bekannt als der Mösenmaler von Mölln) ist mir meine Notenbündel-Tasche gestohlen worden. Jetzt bin ich dem Dieb auf den Fersen, meine Verse und die Aufzeichnungen zur »Erfindung« sind nämlich auch drin. Die Reise könnte sich verschieben. Lass Dir nichts von Tommasow erzählen. Dem Blutsauger. Von Jolassa seit Tagen keine Spur. Könntest Du nach Tanger kommen? Wie immer – Bob.

Bemerkung: Von den Versen Bob Karassows ist nur noch ein einziger bekannt:
Sie stand da in der Tür/ ich konnte nichts dafür/ ʼnen Lappen in der Hand/ hinter ihr war ʼne Wand/ sie war ganz warm und weich/ ich erkannte sie gleich 

  1. Karte (Bob Karassow, Abb.: Edward Hopper, »Nighthawks«, erste Karte)
    Mein lieber Ilja! Ich muss zugeben, dass ich mich in einer sehr depressiven Stimmung befinde… Die Tasche ist nach wie vor verschwunden, keine Nachricht von Dir, von den letzten paar Piepen habe ich mir einen Humpen Tequila (den trinkt man hier mit Salz) gekauft. Meine ganze schöne Arbeit, dahin. Mutter sauer auf mich. Und in Deutschland kassiert dieser Tankwart einen Oskar! Eine ungerechte Welt! Trotzdem hoffe ich, es geht Dir besser?! Höchste Zeit, dass ich aus Tanger verschwinde. Die »Deutschland« ist getankt, nichts hält mich mehr. Licht aus – Womm. Spot an – Jaa. Haha. Wie immer – Bobby.

Bemerkung: Hier irrt Bob Karassow. Den Oscar erhielt nämlich kein anderer als Pepe Danquart, kein Tankwart. Wieder einmal hatte er sich verhört. Die Anspielung auf Ilja Richters »Disco« legt den Verdacht nahe, dass hier der Grund für seine Schwerhörigkeit zu suchen ist.

  1. Karte (Ilja Karassow, Abb.: Blonde Venus)
    Ein paar rasche Zeilen, die ich meiner Sekretärin in die Federn diktiere (Sie heißt Betzy und spricht nur Schwedisch und ein bisschen Schwäbisch. Und sie hat zarte weiße Haut, wie Du auf dem Foto sehen kannst), bevor ich mich in den Flieger nach London setze. Ja, Du hattest recht, Tommasow und seine windschiefen Angebote: Der Kerl war pleite und erzählte mir groß was von einem epochalen Experimentalfilm, der garantiert unaufführbar sei und für den er ca. 33 1/3 Millionen Dollar bräuchte. Das Beste, was mir hier in Stockholm passierte, war Betzy, sie ist ganz entzückend, ich werde sie Dir vorstellen, wenn ich einmal nach Tango-Tanga-Tanger komme. Ja – und was ist das für eine Geschichte mit Deinem Taschendiebstahl? Alle Arbeit umsonst? Erst einmal »Kopf hoch«, Dein Ilja. 
  2. Karte (Ilja Karassow, Abb.: »Beauty of Britain and a Triumph«)
    O Bob my Bob! Ich sitze fest. In England. Auf dem Klo. Help! Yeah! Ilja! 
  3. Karte (Bob Karassow, Abb.: Edward Hopper, »Nighthawks«, zweite Karte)
    Hey Ilja! Wie schnell sich doch die Dinge ändern können! Eben noch sitzt man mürbe bei seiner Spirituose, und ein paar Stunden später ist man ein Stück nach links gerückt und fühlt sich wie ein König! Naja, Du ahnst es, es ist eine Frau im Spiel. Aber ernsthaft – ich bin verliebt! Sie heißt Baguette, lacht gern, spricht viel Französisch und macht es auch ein bisschen. London? Fehlt nur noch Paris, mein Freund. Was wird nun aus unserer Reise? Übrigens habe ich ständig das Gefühl, Jolassa sei in meiner Nähe. Seltsam. Ich schreibe bald wieder. Bob.

Bemerkung: Die Schreibfaulheit Bob Karassows erreicht hier ihren Höhepunkt. Ein weiterer Vers, der von ihm bekannt ist, besagt:
Sie stand da in der Tür/ gelehnt an eine Wand/ ich konnte da nichts für/ le mur

  1. Karte (Ilja Karassow, Abb.: BH-Frauen)
    Bob, Bruderherz, ich teile Deinen Schmerz rechterhand, und ich gratuliere Dir zu Deinem Glück linkerhand. Lange hattest Du Arbeit, Arbeit, nichts als Arbeit, und keine Frau an Deiner Seite, nun hast Du eine Frau, aber die Arbeit ist futsch. Was hält Dich noch in Afrika? Womöglich ein Weißbrot? Dann nimm es an die Hand und besuche mich in Engelland, wo es mir gar nicht gut geht. Mein Darm ist leer (es war wohl, so vermuten Ärzte, der Hirnschwamm einer nordirischen Kuh, der mir nicht bekam, und so bin auch ich ein Opfer der Politik geworden, was ich, wie Du weißt, mein Lebtag zu vermeiden versucht habe), und die böse Betzy machte sich auf und davon mit meinen Notgroschen und vergnügt sich nun in den Boutiquen Boliviens. Jaja, ein ständiges Gehen, und ich sterbe so ins Klo hinein. Ich liege in einem Hospiz für extraordinäre Karmeliterinnen in der Nähe von London und empfange allnächtlich die Sakramente von drei Betschwestern, die sich freundlicherweise in landesüblicher Tracht fotografieren ließen. Ja, Schönheit, der einzige Trost, und die Hoffnung Dich noch einmal zu sehen, Dein Ilja. 
  2. Karte (Bob Karassow, Abb.: Ein weiblicher Hintern)
    Halte durch, mein gutes Bruderherz! Schwer betrübt, Dich so am Arsch zu sehen, eile ich, meine letzten Geschäfte in Tanger zu verrichten. Keppler (Du erinnerst Dich, der Mösenmaler aus Mölln) hat mir seine neuesten Arbeiten anvertraut, weil er es nicht wagt, seine Identität preiszugeben. Naja, die Gelegenheit war günstig, denn ich soll die Dinger in Paris an einen Galeristen verklappen, und Baguette hat ihre Büstenhalter am Montmartre vergessen. So verklappt man eine Fliege mit der anderen, und dann sind wir auch schon auf dem Weg, Dich von der Schüssel zu ziehen. Baguette ist schon sehr neugierig, Dich kennenzulernen, und auch auf Deine schöne große Wohnung ist sie gespannt. Man weiß ja nie. Sie schwärmt sehr für London und von mir, und sie hat nur eine kleine Wohnung wie ich. Das mit der Politik habe ich nicht verstanden. Hirnschwamm? Klingt ja entsetzlich. Auf bald, Dein Bob.

Bemerkung: Das erste berühmte Opfer des Rinderwahnsinns war übrigens der österreichische Formel-1-Rennfahrer Jochen Rindt, der fürderhin einen schrecklichen Unfall erlitt und nicht mehr am Nürburgring gesehen wurde. 

  1. Karte (Ilja Karassow, Abb.: Das entkleidete Monster)
    Ja, mein lieber Bob, auch wir waren einst im heimischen Russland kleine dicke Kinder, und erinnerst Du Dich noch an die glückliche Zeit, als Mama unsere geblähten Bäuche walkte und uns »Fette schwule Heiden« schimpfte, wenn sie uns bei unserem Spiel erwischte – unser Spiel: die kleinen Trauben flogen uns nur so an die kleinen Hoden. Dagegen solltest Du mich jetzt sehen: ein Gerippe! Die Krankheit ist, so scheint es, ausgestanden, aber Unglück hat sein eigenes Leben. Kaum konnte ich wieder halbwegs stehen und meinen 3-fachen Flic-Flac trainieren, verabschiedeten mich die Karmeliterinnen mit Fußtritten! Schwach, ausgemergelt, ein entkleidetes Monster, so stand ich an einer englischen Landstraße und streckte den Daumen in die Damen, da hielt plötzlich ein silberner Rolls-Royce. Und nun rate, wer darin saß! Richtig! Tommasow! Mit einer fetten Havanna im Goldzahn! Und wer saß neben ihm, mit Geschmeide reich behangen? Meine böse Betzy! O Bob, ich ahne eine furchtbare Intrige, doch noch weiß ich nicht genug. Es hat aber, befürchte ich, etwas mit Deinem gestohlenen Werk zu tun: Beim Aufräumen fand ich Deine Notenbündel-Tasche… Beim Aufräumen? O ja, Bruderherz, ich bin mittellos und so in ihrer Hand, was sollte ich tun, ich arbeite nun als Butler bei Tommasow und Betzy… Ich schäme mich. Hilf mir! Befreie mich! Ilja. P.S.: Sie nennen mich Edgar!!! 
  2. Karte (Bob Karassow, Abb.: Oktoberfest Blumenau)
    Mein lieber Edgar, äh Ilja! Ich schreibe jetzt besonders langsam, weil ich weiß, dass Du nicht so schnell lesen kannst, wie sich die Dinge entwickeln. Zuletzt wollte Keppler unbedingt mit nach Paris, jetzt sind wir zu dritt unterwegs, und er verdirbt die ganze Reisestimmung, weil er unentwegt von Mösen spricht. Mösen, Mösen, Mösen, man kann an gar nichts anderes mehr denken. Baguette meinte auch schon: »Der hat doch ʼne Möse!« Symptomatisch. Aber was viel schlimmer ist: Auch mir ist Baguette scheinbar Möse. Mist, Du siehst? Böse, meine ich. Irgendetwas ist hier oberfaul. Die »Deutschland« hat uns geradewegs nach Blumenau gefahren, das Weißbrot macht mysteriöse Bemerkungen, Oje Yono Oko Lassa oder so ähnlich, und Du ahnst zu allem Überfluss auch noch einen Getriebeschaden voraus! Außerdem werden wir von einem Mercedes verfolgt – ja, er ist silbern. Wie immer – Bob 
  3. Karte (Ilja Karassow, Abb.: Die Eingangstür zu Tommasows Arbeitsräumen)
    Bob, das Leben ist schön, die Welt ist schlecht, wie Du zu sagen pflegst; was das Zweite betrifft, da kann ich ein Liedchen von singen, denn es wird ernst, die Schlinge zieht sich zu, pass auf und trau niemandem mehr! Bitteres kann und muss ich vermelden. Bitter genug ist es, dem aufgedunsenen Tommasow und der bösen Betzy ihre Unterwäsche zu waschen; bitterer ist es, was ich dabei alles finde. Zum Beispiel jenen Brief aus Bitterfeld, an Tommasow adressiert, von Jolassa geschrieben, in dem er um die versprochenen Silberlinge bittet, als Lohn für getane Arbeit bezüglich der Entwendung Deiner Schriften und Zuführung eben jener in Tommasows Würstchenfinger. Ja, Jolassa, auch er ein Schurke. Doch es kommt noch bitterlicher! Wenn Du das nächste Mal Deine Zunge in Dein geliebtes Weißbrot schiebst, denke an die Worte der bösen Betzy, die ich beim Staubwischen aufschnappte. »Wieviel kriegt eigentlich die Kleine von Jolassa für ihre Arbeit?«, fragte sie Tommasow. Und fügte hinzu: »Wie hieß sie noch? Croissant? Baiser? Raclette?« Aber Tommasow merkte, dass ich lauschte, und schwieg. Lieber Bruder, das Unheil hat sich uns ausgesucht, es ist schon fast zu spät, auf der Hut zu sein. Kannst Du Keppler trauen? Können wir überhaupt dem ollen Oelfke und der Nulpe Neuwöhner unsere Korrespondenz anvertrauen? Alles seltsam. Doch das Dringendste zum Schluss am gedrängtesten: Fahre nicht nach London! Biege nach rechts ab, denn morgen werde ich nach Russland verschleppt! Genug, ich muss jetzt das Abendessen servieren und packen. Hoffnungslos: Edgar… äh… Ilja.
    Das Foto zeigt die Tür zu Tommasows Arbeitsgemächern. Schlimm, aber vielleicht doch nicht hoffnungslos. Hier schlug mir T. den Fotoapparat aus der Hand, als ich heimlich entlarvende Dokumente ablichten wollte. 
  4. Karte (Bob Karassow, Abb.: Die Sado-Maso-Mutter Kepplers)
    Lieber Ilja! Ich kann Dir dieses Mal nur in gedämpfter Zunge schreiben, also spitze die Ohren, was ich Dir flüstern muss. Deine letzte Karte hat mich schmerzlich getroffen. Gerade war ich wieder einmal in Baguette verknotet, meinen Lecklappen tief in ihre Lunge geschoben (Passiv-Raucher, aufgemerkt!), als ich von ihrem Kompott hören musste, nein, es heißt natürlich Komplott, aua, aber meine Zunge, weh, sie hat sehr gelitten! Am liebsten verschlösse ich meine Lauschlappen vor dem, was Du so alles beim Aufwischen aufschnappst, aber leider: Auch ich habe schlechte Nachricht für Dich. Nachdem ich meine Zunge nun nirgendwohin mehr hineinstecken kann, habe ich meine Nase genommen, und nun rate, was ich da sah! Kepplers Gepäck besteht praktisch ausschließlich aus Stöcken, Abführmitteln und Holmen. Und sein neues Werk, naja, Du siehst es ja selbst. Unsere Sado-Maso-Mutter, mit einem Stöckchen im Maul! Ich werde von nun an also vorsichtig sein. Sie haben mich gefesselt und geknebelt und gesagt, dass ich dem silbernen Benz folgen soll. Das In-Feuerzeug sei leer, haben sie gesagt. Ha! Die halten uns für blöd. Halte aus – Bobby. 
  5. Karte (Ilja Karassow, Abb.: Ilja unter Lachgaseinwirkung)
    Bob? Bob? Kannst Du mich hören? Sehen? Lesen? Jaja, ich bin‘s, Ilja! Mit diesen Handschuhen wird es Stunden dauern, bis ich die Karte geschrieben habe, und wie ich es fertigbringen werde, sie zum Postamt zu bringen, weiß ich auch noch nicht. Man soll nie sagen, es könne nicht noch schlimmer kommen: es kann. Kaum waren wir in Petersburg angekommen, wurde ich von Betzy + Tommasow als Butler entlassen, an einen geheimen Ort verbracht (ich vermute ein ehemaliges militärisches Sperrzentrum), dort ausgekleidet und in dieser Rüstung verpackt. Seit Tagen stehe ich hier im Raum und werde durch einen Schlauch mit Sauerstoff, manchmal aber auch mit seltsamen Gasen beatmet. Es ist nun klar und so­ viel weiß ich: Wir beide sollen aus dem Verkehr gezogen werden. Es soll irgendwas mit Stalins verschollenem Schatz (seine unterschlagenen Parteimitglieds-Beiträge), einer Kurtisane von Chruschtschow, deren zwei Söhnen und unserer Mutter zu tun haben. Na, nun zähl‘ 37 und 68 zusammen! Ich muss schnell machen, denn HAHA das Gas kommt HA wieder HAHA also: unser wirklicher Vater HAHAHA war Nikita HAHA und der alte Karassow HAHAHAHA hieß früher HAHAHA Tommasow HAHA jaja HAHA wir haben HA einen Halbbruder HAHA das Gas HAHAHA er wird HAHA immer HAHA schlimmer HAHA-HAHAHAHAHA… 
  6. Karte (Bob Karassow, Abb.: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«)
    Mein lieber Bruder Ilja! Erinnerst Du Dich noch an den Tag, als uns unsere Mutter, wir waren, glaube ich, vier oder fünf (und insgesamt etwa 105), diese Zungen im Mund einnähte und uns beschwor, darüber bis zum Lebensende Stillschweigen zu bewahren? Und was haben wir gemacht? Unsere Verwandtschaftsverhältnisse haben mich schon immer ein wenig verwirrt, aber jetzt blicke ich schon gar nicht mehr durch. Obgleich mich nichts mehr wundert. Nicht einmal den Anvertrauten darf man noch trauen. Wir haben die »Deutschland« schon lange verlassen. Jolassa (ach, das wusstest Du noch gar nicht? Jolassa, der Fahrer des silbernen Blitzes, der mich schon seit Tagen verfolgte, ist unser leiblicher Neffe), Baguette und Keppler haben mich gemeinsam im Benzintank des Mercedes versteckt. Aber: Wenn man mich aus dem Verkehr zieht, dann nur über meine eigene Leiche! Die sollen nichts zum Kichern haben! Wenn ich doch nur meine Streichhölzer finden könnte. Ach! Ich schätze, wir sehen uns bald. Hüte deine Zunge – Bob. 
  7. Karte (Ilja Karassow, Abb.: »Wer keine Postkarten schreibt, den bestraft das Leben«)
    Lieber Bruder Bob! Es ist schön hier, schön, wirklich schön, sehr schön ist es hier, wirklich. Die Luft ist blau, das Wasser grün, die Sonne gelb, die Menschen braun, die Haare schwarz, der Schweiß ist nass. Das Hotel ist sauber, auch die Leute sind sehr sauber, die Huren sind außergewöhnlich sauber, und das Geld ist ganz bestimmt sauber. Man kann hier sehr gut essen, was kann man hier gut essen, Mann! Dass das Flair hier stimmt, stimmt. Ich trinke gern Cuba Libre hier, denn das schmeckt.
    Es war ganz ordentlich tapfer von Dir, den silbernen Benz samt Jolassa, Keppler und Brikett in graue Asche zu verwandeln, just in dem Moment, als Tommasow, Betzy und Mama mir die geheime zweite Zunge herausschneiden wollten, um den dort verborgenen Hinweis auf das Versteck des Stalin-Schatzes zu bergen. Mann, gab das einen Knall! Gut gemacht, Bruderherz! War es nicht eine wunderschöne Kurve, die Mama in der Luft beschrieb, bevor sie auf die Erde klatschte? Und was da alles zum Vorschein kam, als Mama aufplatzte! Da steckte er, der Stalin-Schatz! Vollgestopft mit Diamanten und goldenen Orden war sie, die Arme, so nah an dem, was sie so heiß begehrte, und nun so tot und schlampig. Zum Glück gab es keinen Schurken mehr, der mir die Beute hätte streitig machen können. Schließlich steht uns der Mammon ja auch zu, oder? Nur eine Sorge quält mich hier im Paradies: Wo bist Du nach Deiner Heldentat geblieben? In der Hölle? Ich jedenfalls griff mir meine Beute (die Hälfte! nur die Hälfte!) und machte mich von dannen.
    Ich hoffe, Du bist nicht tot, das wäre, nach allem, was wir durchgestanden haben, dann doch zu ärgerlich. Oder? In Liebe, Ilja Chruschtschow.

Zuletzt ein Brief von Bob an Ilja Karassow:
Lieber Ilja. Es hat mich sehr gefreut, von Dir zu hören. Bitte verzeih, dass ich heute ganz ansichtslos bin und Dir einen Brief schreiben muss. Auch ich, das muss ich sagen, habe Glück gehabt und überlebt. Leider aber haben wir die Rechnung ohne die Milchgesichter Neuwöhner und Oelfke gemacht. Mein lieber Bruder, wie soll ich‘s Dir sagen? Ich soll Dich fragen, wo Du steckst. Auf Deiner letzten Karte hast Du keine Adresse hinterlassen, und die Herren stehen jetzt hier und wollen auch die bessere Hälfte der Karassows, sprich den ganzen Schatz. Ilja, den beiden ist alles zuzutrauen, nachdem was ich von ihnen weiß, alles ist denen zuzutrauen, sogar das Schlimmste, und wenn ich das Schlimmste sage, dann meine ich das Schlimmste, schlimm, wirklich schlimm. Bitte lass mich nicht im Stich – Autsch! Sie wollen, dass Du Dich auf der Stelle auf den Weg machst, auch wenn ich nicht weiß, wie das geht – Autsch! – und hierher kommst, die Diamanten sollst Du in kleinen und nicht nummerierten Nasen verstecken, die Orden mit extraordinären Karmeliterinnen tarnen. Mein lieber – Autsch! – Ilja, wirst Du das schaffen? Autsch! Du musst, hörst Du? Autsch! Nun, Du hast die Wahl, ich nicht. Errette mich, oder bleibe mobil, dann wirst Du auch nicht überfahren. Wie immer – Autsch!

Bemerkung:
Dieser letzte Brief von Bob an Ilja Karassow macht uns tief betroffen. Schon einige Male zuvor ist deutlich geworden, dass Bob Karassow einfach nicht bei der Wahrheit bleiben kann. Das wäre verzeihlich. Der Passus mit den Karmeliterinnen aber ist eindeutig ein Plagiat der Neuwöhnerschen Werke. Das prangern wir an.

Erstmals erschienen und zum Vortrag gebracht am 30. Juni 1994, Galerie Marsyas (Berlin)

DER ROTE PULLOVER

Eines Tages, als der rote Pullover vom wöchentlichen Stretching kam, entdeck­te er, dass er wieder modern war. Er traf gleich mehrere seiner alten Kumpel auf der Straße, die alle gute Laune hatten, weil sie schon lange nicht mehr raus- und an die frische Luft gekommen waren, und auch jede Menge anderer roter Pullover, die er noch nicht kannte. Da schwante dem roten Pullover nichts Gutes. Das Mädchen nämlich, das ihn vor ein paar Jahren in einem Second-Hand-Shop in der vierten Welt geklaut hatte, war so ein richtiges Energiebündel in Sachen Integrität und außerdem total »old school«. Ein Diebstahl zum Bei­spiel kam für sie nicht in Frage. Sie würde ja auch keine Sachen essen, die ein Gesicht haben. Und sie würde erst recht keine Sachen tragen, die plötzlich wieder modern sind.

Das Schlimmste aber war, dass das Mädchen, das Flora mit Vornamen und Fauna mit Nachnamen hieß, ihn aus Geiz nicht bei einer Altkleider-Sammlung abgeben würde. Mist, dachte der rote Pullover, da war er nun endlich wieder einmal mo­dern und wurde nicht mehr blöde angestarrt, sondern be­staunt und gehätschelt, und er hatte das Pech einer miesepetrigen Weltverbesserin zu gehören, die ihn zweifellos hinter den schwedischen Gardinen ihrer Ikea-Kommode verbannen würde, um fortan ein Dirndl oder irgendwelche anderen Fetisch-Klamotten zu tragen. Dem roten Pull­over wurde so schummerig ums Herz, dass er zu Heulen begann. Die Tränen liefen in Sturzbächen an ihm hin­unter, was unglücklicherweise zur Folge hatte, dass er radikal einlief und Flora Fauna er­würgte. Gleich stand eine Menge von Schaulustigen um die beiden herum und berat­schlagte, was zu tun sei. Sie entschied, dass es zwar schade um die mode­bewusste junge Frau sei, dass man aber auch an sich denken müsse, und fiel mit vereinten Kräften über das trendige Kleidungsstück her. Dabei wurde der rote Pullover versehentlich in mehrere Tausend Stücke zerteilt, und sogar Flora kam noch zu weiterem Schaden, weshalb die Geschichte an diesem Punkt ziemlich jäh abreißt.

EIN HAAR IN DER SUPPE

„Nimm doch mal die Hand aus der Suppe. Das sieht ja widerwärtig aus, mit den dreckigen Fingernägeln und dem Ekzem! Wer soll denn das noch essen?“ – „Vorhin hast du noch gesagt, ich soll meine Hand in die Suppe legen, dafür leg‘ ich meine Hand in die Suppe, wenn‘s recht ist.“
„Na klar hab‘ ich das gesagt, aber gemeint hab‘ ich Mach mal das Fenster auf und nicht Lege die Hand in die Suppe.“ – „So, so.“
„Nimmst du sie jetzt raus, oder was?“ – „Ja, ich nehme jetzt die Hand aus der Suppe. Obacht.“ – „Und mach das Fenster auf.“ – „Warum soll ich das Fenster aufmachen?“ – „Du hast noch immer die Hand in der Suppe.“ – „Kuck mal, die Fingernägel sind schon fast sauber, und die Bläschen da, ich weiß nicht, vielleicht ist Suppe ja gut für mein Ekzem, was meinst du?“ – „Mach das Fenster endlich auf.“ – „Warum?“ – „Na, warum wohl?“ „Du gehst mir auf die Suppe.“ – „Klar, was denkst du denn?“ – „Ich nehme meine Hand nicht raus, wenn du springst.“ – „Nimm die Hand aus der Suppe.“ – „Nicht, wenn du springst.“ – „Ich soll nicht springen?“ – „Du kochst gute Suppe.“ – „Und du legst deine Finger rein.“ – „Entschuldigung. Ich nehme jetzt die Hand raus.“ – „Mach das Fenster weit auf.“ – „Die Suppe ist gut. Wirklich. Mein Ekzem ist schon fast weg.“ – „Du ekelst mich an.“ – „Na, dann spring doch.“ – „Ich soll durch die Scheibe sprin­gen?“ – „Ich nehme meine Hand nicht aus der Suppe, wenn du springst.“ – „Na schön, dann springe ich eben nicht. Los schon, mach das Fenster auf.“ – „Versprochen?“ – „Versprochen.“
„Das Fenster könnte man auch mal wieder putzen.“ – „Das kannst du ja dann machen.“ – „Stimmt, ich glaube, ich bin dran.“ – „Mir ist es wurscht, ob du es putzt, oder nicht.“
„Du springst doch, hab‘ ich Recht?“ – „Ja.“ – „Du machst wirklich gute Suppe. Und auch sonst. Du wirst mir fehlen.“ – „Danke.“ – „Gibst du mir noch das Rezept?“ – „Ich hab‘s auf­ge­schrieben.“ – „Prima.“ – „Und du? Was machst du noch so heute?“ – „Ich weiß noch nicht. Das Ekzem und so… Vielleicht spring ich auch.“ – „Ich hab Hunger.“ – „Es ist noch Suppe da.“ – „Essen wir gemeinsam?“ – „Gern, ich hol schon mal die Teller.“ – „Nimm die tiefen, aus der Vitrine.“ – „Okay.“ – „Zwei Kellen?“ – „Ja, erstmal zwei. Danke.“
„Schmeckt.“ – „Schmeckt wirklich gut.“ – „Danke.“ – „Das Fenster ist jetzt offen.“ – „Ja, danke.“ – „Du kannst jederzeit springen.“ – „Ich esse erst noch die Suppe.“ – „Logo.“ – „Da ist ein Haar in der Suppe.“ – „Tatsächlich.“ – „Kuck doch mal, wie lang das ist. Von mir ist das nicht.“ – „Von mir ist es auch nicht. Ein Haar in der Suppe, haha.“ – „Weißt du noch, in Salzburg, da hattest du auch immer deine Hand in der Suppe.“ – „Stimmt. Das war lustig.“ – „Lustig ist gut. Zum Totlachen war‘s. Einer nach dem anderen kam rein und sagte Seht mal, der hat ja seine Hand in der Suppe, und du hast die Kartoffelstücke rausgeschnippt und Kartoffeln mag ich nicht so gesagt, und dann haben alle ihre Hand in die Suppe gelegt und Kartoffeln rausgeschnippt…“ – „Wann springst du?“ – „Wenn ich fertig bin.“ – „In der Suppe sind keine Kartoffeln.“ – „Du magst ja auch keine.“ – „Nein.“

Eine Stadtmöwe setzte sich auf das Küchen-Fensterbrett der Wohngemeinschaft der beiden und schnitt ihr Gespräch auf einem Sony-DAT-Recorder mit, damit es der Nachwelt erhalten bliebe. DAT-Recorder waren zu dieser Zeit außerordentlich erschwinglich geworden, und die Stadtmöwe hatte sich einen alten Traum erfüllt, als sie sich das Gerät erschwang. Sehr dunkel, so etwa im Farbton eines seit sechs Jahren nicht geputzten Fensters, schwante ihr, dass sie ihr Leben eines Tages in einer Fahrbahn-Rinne, müden Auges und unappetitlich, beenden würde. Dann zog sie sich auf ihren Lieblingsplatz, den Schornstein des Hauses, zurück.

DER BESTE JOB DER WELT

DER BESTE JOB DER WELT

Klaus-Dieter ist Kraftfutter-Fahrer für »Power-Frau & Töchter«. Ein guter und sicherer Job, denn Power-Frauen wird es immer geben, und Kraftfutter werden sie auch immer brauchen. Klaus-Dieter ist glücklich. Er kriegt jetzt sogar die Milchtüten auf, auch wenn gerade keine Schere zur Hand ist, weil er immer mal wieder vom Kraftfutter nascht. Die an­deren Männer, die Klaus-Dieter kennt, sind alle völlig abgeschlafft, seit die Power-Frauen-Liga das Kraftfutter-Embargo über das schwache Ge­schlecht verhängt hat. Die Lage für die Männer ist ernst, aber Klaus-Dieter ist das schnuppe. Klaus-Dieter ist der Piephahn im Körbchen, the cock in the walk, auch wenn er das nicht sagen darf. Offiziell sind alle Kontakte zwischen Männern und Frauen verboten, aber Klaus-Dieter gehört nicht zu denen, die sich leicht bange machen lassen. Wollen doch mal sehen, ob sich heute nicht noch etwas aufreißen lässt, denkt Klaus-Dieter, und eine Milchtüte meint er damit bestimmt nicht.

„Hier Power-Frau & Töchter, Klaus-Dieter, kommen.“ „Hier Klaus-Dieter, was gibt‘s, kommen.“ „Wo steckst du denn, du hast schon zwei Stunden Verspätung, kommen.“ „Ein Polizeieinsatz auf der »Bär­bel-Bohley-«, ehemals »Nancy-Spungen-«, ehemals »Rosa-Luxemburg-Stra­ße« hat mich aufgehalten. Versuchter Mikroalgendiebstahl mit anschließender Liquidierung der ausschließlich männlichen Täter. Die Ware ist komplett, ich bin jetzt etwa bei Elle 23, kommen.“ „Überführung der Lieferung spätestens 18 Uhr 30, meinst du, du wirst das noch schaffen, kommen.“ Klaus Dieter überlegt. Tanken, das Girl von der Tanke flachlegen… „Ich mach so schnell ich kann, kommen.“ „Roger.“

Frau Power-Frau flucht. Sie will endlich Feiernacht machen. Da kommt Frau Power-Frau jr. ins Büro. „Kann ich jetzt Feiernacht machen?“ So hat Frau Power-Frau ihre Tochter noch niemals gesehen. „Wie siehst du denn aus? Wimperntusche? Lippenstift? Ist Männer-Kar­neval?“ Frau Power-Frau jr. wird rosa. „Mutti“, sagt sie, „ich habe da neulich jemanden kennengelernt, und da habe ich mich ein bisschen aufgedonnert, weil…“ Frau Power-Frau fällt ihr ins Wort. Wen soll ihre Tochter denn kennengelernt haben? Einen von diesen Waschlappen, die da draußen herumvegetieren, kann sie doch nicht meinen? Frau Power-Frau kennt überhaupt nur noch einen Mann, der nicht total durchhängt, und das ist ihr Klaus-Dieter. „Okay, mach Feiernacht. Aber donnere dich sofort wieder runter! Was du in deiner Freizeit machst, interessiert mich nicht. Aber hier im Büro kreuzt du nicht noch einmal so auf!“

Klaus-Dieter hat den besten Job der Welt. Er fährt auf die Tanke, kurbelt das Fenster herunter und ordert „Bitte einmal volltanken, bitte!“ Das Girl von der Tankstelle ist ihm schon das letzte Mal aufgefallen. Tank Girl. „Wo ist bei dir der Einfüllstutzen?“, fragt sie. „Das wollte ich dich auch schon fragen“, sabbert Klaus-Dieter. „Hey, hey, hey, ey“, quietscht Tank Girl begeistert, „du bist ja gar nicht so eine Lusche wie die anderen Jungs! Komm, wir gehen in die Waschanlage, ficken!“ „Okay“, sagt Klaus-Dieter, „aber vorher donnerst du dich noch ein biss­chen auf, okay?“ „Ey hey, hey ey! Den Terror mache ich nicht mit. Kommt ein guter Typ vorbei, soll ich mich für ihn aufdonnern, und dann soll ich mich gleich wieder runterdonnern, damit mich meine Chefin nicht erwischt, rauf und runter, rauf und runter…“ „Ich kann aber nicht mit runtergedonnerten Frauen“, mault Klaus-Dieter. Da hat Tank Girl aber schon den Stutzen des verdutzten Klaus-Dieter im Mund. Klaus-Dieter wird von Tank Girl vergewaltigt. Die Lage für Klaus-Dieter ist ernst. Kein Mensch wird ihm das glauben.

Als Tank Girl abgespritzt hat, schlurft Klaus-Dieter völlig abgeschlafft aus der Waschanlage. Jetzt ein bisschen Spirulina platensis, denkt er, sonst mach ich auch noch schlapp! Da bemerkt er, dass der La­ster geklaut ist. Mühsam schleppt er sich zur nächsten Telefonzelle. „Hier Power-Frau & Töchter, kommen.“ „Hier Klaus-Dieter, der Laster ist weg, kommen!“ „Du bist ja völlig außer Atem, was ist denn mit dir los, kommen.“ „Der Laster ist weg, hast du gehört, kommen!“ „Der La­ster ist weg, der Laster ist weg, glaubst du ich bin taub, oder was, kom­men.“ Klaus-Dieter stöhnt. Wenn er jetzt ohne Kraftfutter zu seiner Chefin muss, dann ist alles aus. Draußen pocht ein Typ gegen die Tür der Telefonzelle. „Hey ey, du Weichei. Jetzt mach mal die Biege. Papi will telefonieren!“ Das gibt es doch gar nicht, denkt Klaus-Dieter, auch wenn es ihm schwerfällt. Seinem Körper fehlen bereits mindestens 95 Prozent der Informa­tionen des Meeres, die in der Mikroalge stecken. Trotzdem ist ihm klar, dass der Typ da draußen von dem Kraftfutter genascht haben muss. Da fällt Klaus-Dieter die Notreserve Spirulina platensis ein, die er in einem Kondom in seinem Hintern versteckt hält. „Junge, hör auf, dir am Arsch herumzukratzen. Du hast deinen Posten missbraucht, nur um herumzuvö­geln. Wir beobachten dich bereits seit Wochen. Aber jetzt ist das Spiel vorbei, mein Freund. Wer sich nicht solidarisch zur »Hey-Guy« verhält, darf nicht mit Gnade rechnen.“ In diesem Moment zieht Frau Power-Frau jr. dem Typ eine Flasche »Fit for Fun« über den Schädel. Sie ist total in Klaus-Dieter verknallt. „Der Laster steht da unten, zwei Ecken wei­ter. Komm!“ Klaus-Dieter schluckt die Notreserve Spirulina. „Tank Girl hat mich vergewaltigt. Da hat mir die »Hey-Guy« den Laster geklaut!“ „Das werden wir rächen“, sagt Frau Power-Frau jr., schnappt sich den Typen und pumpt ihn mit Kraftfutter voll. Dann holt sie Tank Girl aus der Waschanlage, nimmt sie in den Schwitzkasten und malt sie wie einen Tuschkasten an. „Ey hey, hey ey, das kannst du mir doch nicht antun, Schwester“, jammert Tank Girl, aber es ist schon zu spät. Der Typ ist wieder zu Kräften gekommen, und als er Tank Girl so aufgedonnert sieht, fällt er natürlich sofort über sie her. „Jetzt rufen wir eine Politesse, und dann ist gut“, sagt Frau Power-Frau jr.

Klaus-Dieter ist glücklich. Er hat den besten Job der Welt. Er wird geliebt. Und wenn er Tank Girl in Zukunft aus dem Weg geht, wird ihm auch nicht noch einmal so eine Scheiße passieren. „Dufte auf­gedonnert biste“, sagt er. „Danke“, haucht Frau Power-Frau jr. und grinst. „Weißt du, was du bist?“ „Was denn“, will Klaus-Dieter wissen. „Du bist das letzte Arschloch der Welt.“ „Danke“, haucht Klaus-Dieter.

zuerst erschienen in: Salbader Nr. 17, Berlin 1996

KÖRBE UND ARSCHTRITT

KÖRBE UND ARSCHTRITT

Gib, so wird auch Dir gegeben ­– nimm, so nimmst Du Dir das Leben stand in geschwungenen Lettern der Werbeslogan und das Lebensmotto des alten Körbe über der Ladentür des Geschäftes »Körbe und Arschtritt«, darin die kleine Glocke klingelte, der alte Arschtritt fluchte und warf sich den Kittel des alten Körbe über, schlurfte die Wendeltreppe, die von dem über dem Geschäft gelegenen Büro in den Ladenbereich führte, hinunter, die Treppe, auf der er den alten Körbe mit einem Arschtritt ins Jenseits befördert hatte.

Schon seit Wochen war es ihm nicht mehr gelungen, auch nur einen einzigen der Körbe, die der alte Körbe im Laufe seines Lebens bekommen hatte, und die alle sehr gut verarbeitet waren, zu verkaufen. „Sie wünschen? Arschtritt gefällig?“ „Ich hätte gerne einen Korb, nur bitte nicht zu teuer.“ Die Nachfrage nach billigen Körben war enorm. Der alte Arschtritt kannte diese Kundin, sie war schon öfter hier gewesen, heute schon vier Mal, und sie sah blendend aus. Jedes Mal kam es zum Streit: „Hundert Mark? Sie sind wohl verrückt? Wie soll ich mir das leisten? Wissen Sie eigentlich wie viele Männer…“ und regelmäßig beförderte er sie mit einem Arschtritt nach draußen, der war gratis, geben und nicht nehmen, doch sie kam immer wieder, denn die Frauen mochten Arschtritt.

„Wieviel wollten Sie denn anlegen?“ „Ich weiß nicht, meine Devise ist ja eigentlich: Alle ausneh­men und niemals etwas ausgeben, sagen wir mal zwanzig Mark?“ „Sie wollen mich wohl ruinieren, wissen Sie eigentlich, was der alte Körbe, Gott hab ihn selig, dazu sagen würde, im Grab würde der sich umdrehen, sein Lebenswerk verhökern, niemals!“ schrie Arschtritt und beförderte sie und die ande­ren Kundinnen, die sein Geschäft bevölkerten, nach draußen.

Der alte Körbe. Sein Freund. Erdreistete sich, ihn für die roten Zahlen, die sie in letzter Zeit, nach vierzig erfolgreichen Geschäftsjahren, geschrieben hatten, verantwortlich zu machen. Schleimte weiter „Sie wünschen?“ und versuchte, den Frauen seine sehr gut verarbeiteten Körbe anzudrehen. „In was für Zeiten lebst Du denn, Mensch, wir müssen auf Pfefferspray umsteigen, Pfefferspray, Miniröcke und Nylons, wer leistet sich denn heute noch ʼnen Korb für 100 Mark? Die Kunden stehen Schlange nach preiswerten Körben, und wir bleiben hier auf diesen Edeldingern hocken“ erregte sich Arschtritt, und eines Tages hielt er es einfach nicht mehr aus und servierte eine Kundin, die gleich einen Vorrat von Körbchen begehrte, mit den Worten „Nehm‘ Se doch ʼne Plastiktüte“ ab. Der alte Körbe tobte „Das kannst Du doch mit einer Kundin nicht machen, mein Freund, ja bist Du denn nicht mehr ganz richtig im Kopf“, und Arsch­tritt schimpfte Körbe einen Betrüger, von wegen geben und nicht nehmen, seine Arschtritte waren umsonst und außerdem viel wirksamer, und Körbe schimpfte Arschtritt einen Grobian und Schwachkopf, und dann war Körbe gegangen, wortlos, hinaus auf die Straße, und mit einem neuen Korb zurückgekommen, einem wahren Prunkstück in Verarbeitung und Materialqualität. Völlig unverkäuflich.

Se teims sey ar ä tscheyndsching, Mensch Körbe, heute muss das al­les schnellschnell gehen, zack ʼnen flotten Spruch, hopphopp ins Bett und schnell ʼnen Korb, du spinnst doch total“, und dann hatte er Körbe einen Tritt verpasst, und Körbe war verstorben. Der alte Körbe. Sah immer etwas traurig aus. Und nachdenklich. Mürrisch ver­setzte der alte Arschtritt einem der Körbe, die der alte Körbe im Laufe seines Le­bens bekommen hatte, und die alle sehr gut verarbeitet waren, einen Tritt. Laden­hüter. Viel zu teuer. Viel zu gut verarbeitet. Bei mir gibt‘s einen Tritt und das war‘s, dachte er, sein Magen knurrte: »Fleisch«. Die Kundschaft strömte in den Laden, eine Frau hübscher als die andere, und begutachtete seine Ware, stöhnte „Irre“, „Wahn­sinn“ und „Der spinnt“. „Sie wünschen?“ fragte er. „Ich hätte gerne einen Korb, nur bitte nicht zu teuer.“ „Oh, das wird schwierig“, lächelte Arschtritt und betrachtete diesen prächtigen anatomischen Einfall der Evolution etwas näher. „Entschuldigen Sie bitte, mir ist ein wenig schwindelig, mir wird ganz heiß. Sie strahlen so viel Wärme aus, ich muss Sie etwas fragen: Wollen wir nicht vorher noch was spachteln?“ So sprach Arschtritt und dachte: Gib, so wird auch Dir gegeben.

zuerst erschienen in: Salbader Nr. 15, Berlin 1995; Sklaven Nr. 14/15, Berlin 1995

DUMM DUMM

DUMM DUMM

Kriminell-sein ist total doof. Kriminelle stehen in irgendeiner dunklen Seitengasse der Milchstraße in einem Trenchcoat herum, den sie immer, im Sommer wie im Winter, tragen müssen, damit sie die Polizei nicht entdeckt, das Publikum aber wiedererkennt. Kriminelle sind völlig unsensibel und packen immer viel zu fest zu. Wenn es Pommes frites ge­ben soll, gibt es Kartoffelbrei, und schon manche Frau hat sich das Genick gebrochen, weil ihr ein Krimineller den Nacken kraulen wollte. Das kommt von der vielen Kraft, der kriminellen Energie, die Kriminelle ha­ben, weil sie eine schwere Jugend hatten. Kriminelle hatten immer eine schwe­re Jugend, deshalb werden sie auch gern schwere Jungs genannt. Wenn sich Kriminelle verlieben, dann müssen sie wahre Hormonstau­dämme errichten und so alberne Sachen wie Ich schau Dir in die Augen, Kleines sagen, damit sie ihrer Liebsten nicht das Genick brechen tun. Kriminelle können kein richtiges Deutsch und haben höchstens Ma­tura. Und am Ende wandern sie ins Gefängnis und setzen drei Runden aus. Oder sie wer­den von Schimanski erschossen. Igitti­gitt! Wandern! Alte Omas, bewaffnet mit Großväter-Schirmen! Überall Alarmanlagen! Sicherheitsschlösser! Pfützen! Nein, nein, kriminell-sein ist total doof.

Als ich mit acht Jahren in den Gemischtwarenladen bei uns um die Ecke stromerte und eine volle halbe Ewigkeit lang sämtliche »Matchbox«-Autos be­tatschte und be­trachtete, bis ich end­lich meinen Mut zusammenraffte, eins von ihnen einzusacken und aus dem Ge­schäft zu tragen, habe ich Blut und Wasser geschwitzt, wie man so sagt. In dem Film »Die Bartholo­mäus­nacht« kann man sehen, wie das ist, wenn man Blut schwitzt, und lustig ist das nicht. In dem Film »Natural Born Killers« wird das Blut nicht ge­schwitzt, da blu­ten die Herzen einer jungen Liebe, die auseinander­geris­sen wurde, weil die beiden Lieben­den kriminelle Subjekte sind. Und in »Romeo is Bleeding«, da sagt es schon der Titel, da geht es dem Missetäter auch an seinen roten Saft. Natürlich war ich sehr stolz dar­auf, dass ich nicht erwischt wurde, damals mit acht Jahren. Weniger stolz war ich dar­auf, dass ich das »Match­box«-Auto nach gelungener Tat vor lauter Scham in den Zigaretten-, Zeitschrif­ten-, »Matchbox«-Auto- und Sonstiges-Laden zurück­trug, und es an seinem dem Verkauf be­stimmten Platz verbrachte. Ich verzichte zwar nur ungern darauf, in U-Bahnhö­fen zu rau­chen, sowie ich mancherlei peinliches Verhalten begrüßens­wert finde, es be­reitet mir aber schon größtes Unbehagen, eine Ampel bei Rot zu überqueren. Zu sehr fürchte ich die mahnenden Worte der Mütter, die mit ihren noch zu sozia­lisierenden Bälgern an der Bordsteinkante stehen, die bohrend strafenden Blicke der Ho­senmätze, Sab­ber­lätze: Böser Onkel, du. Tatsächlich kommt man auch dann auf wunderbare Weise rechtzeitig ans Ziel, wenn man das grüne Licht abwartet, und hat sogar ei­nige Se­kunden gewonnen, in de­nen man verharren und über wichtige Dinge nachdenken kann.

Nein, ich möchte nicht, das Poker­face von Hitzeflecken über­sät, den Nadelstreifentrenchcoat von Blut und Wasser durchtränkt, in einer von Al-Capone-Cigarillos verrauchten In-Kneipe stehen und Schultheiß trin­ken. Nein, viel lieber liege ich in meiner von Zigarettenrauch verqualm­ten Bude zuhause im Bett, kraule meiner Freundin den Nacken und warte auf die Post. Tja, wenn es die Post nicht gäbe! Vielleicht würde ich dann kriminell. So aber liege ich zuhause im Bett, lasse mir von meiner Freundin den Nacken kraulen, und warte auf die Post. Dann ist sie da, das Bar­geld lacht. Gerade erst heute habe ich einen Brief vom Clou-Versand bekommen, eine Mitteilung an den Hauptpreis­-Gewinner Ro­land Oelfke. Der Ziehungsleiter und der Direktor des Clou-Versan­des schrei­ben: »Sehr ge­ehr­ter Herr Oelfke, zunächst gratulieren wir Ihnen recht herzlich zu ihrem Haupt­preis-Gewinn. Jetzt ist es wichtig, dass Sie Ihren Preis schnell erhalten«. Diebstahl? Entführung? Er­pres­sung? Wieso denn? Man braucht nur gelegentlich eine Mark, die sich lohnt, auf ein Antwortschreiben kleben, und schon ist man bald Millionär.

50.000 DM habe ich, laut Gewinnbescheid des Bargeld-Auszahlungsbüros, ge­won­nen. Jetzt muss ich nur noch die zwei Einsendewege be­achten: »1. Weg: Sie bestellen. Bestellschein und Gewinn-An­forderung in diesen Umschlag zur Sofort-Bearbeitung. 2. Weg: Sie bestellen nicht. Sie kleben die Gewinn-Anforderung hier auf diesen Umschlag. Diese Um­schläge werden aussor­tiert und zur späteren Bearbeitung zurückge­stellt«. Bestellen soll ich einen Super-Mob für nur 39,95 DM, und den werde ich brau­chen, für das viele Geld, haha.

Jetzt aber muss diese Geschichte ein Ende nehmen, weil ich morgen wieder früh raus und auf die Post warten muss. Leider hat die Geschichte noch kein Ende, deshalb werde ich jetzt ganz schnell eins er­finden. Stellen Sie sich vor, Sie stehen bei Rot an der Ampel. Sie haben Angst, dass Sie ein »Matchbox«-Auto überfahren könnte, wollen aber noch ihr Ant­wortschreiben an den Clou-Versand zum Briefkasten bringen. Ihre Freundin hat Sie mit den Worten „Du kraulst mir immer den Nacken“ und dem Super-Mob aus der Wohnung gekehrt. Die Kinos sind schon ge­schlossen, und Sie begehen ein schweres Verbre­chen. Weil Sie ein mitteilsamer Mensch sind und vor ihren Freunden keine Geheimnisse haben wollen, er­zählen Sie ihnen allen davon, an­schließend liquidieren Sie sie, weil Sie keine Mitwis­ser dulden dürfen. Jetzt sind Sie einsam und denken daran, eine Geschichte mit der Erzäh­lung ihres Verbrechens zu beginnen.

zuerst erschienen in: Salbader Nr. 14, Berlin 1995; Sklaven Nr. 14/15, Berlin 1995

MIMI UND JIMMY

MIMI UND JIMMY

Jimmy wär gern mal mit Mimi ins Bett, aber Mimi ging nie ohne Krimi ins Bett. Und Jimmy ging zu Bett und schaute ʼnen Krimi mit Schimmie. Und Mimi ging mit ʼnem Krimi ins Bett, den las sie, den Krimi, die Mimi, im Bett. Und Jimmy, der dachte an Mimi. Und Jimmy dachte, ey, ich schreib Mimi ʼnen Krimi, vielleicht geht die Mimi mit Jimmy ins Bett. Und Mimi ging nie ohne Krimi ins Bett und dachte nicht an Jimmy. Und Jimmy schrieb Mimi ʼnen Krimi, da kriegte der Schimmie sein Fett, und Mimi liebte Jimmy, und Jimmy war nett.

Und Jimmy ging zu Mimi und zeigte der Mimi den Krimi von Jimmy. Und Mimi sagte: „Oh, ein Krimi, Jimmy, gimmie!“ Und Jimmy fragte: „Kennst du den Krimi mit Schimmie?“ Und Mimi sagte: „Nein, ich geh nie ohne Krimi ins Bett.“ Und Jimmy gab Mimi den Krimi, und Mimi dachte, das ist aber nett, ich geh mit dem Krimi von Jimmy ins Bett. Und Jimmy ging zu Bett und schaute ʼnen Krimi mit Schimmie und dachte an Mimi. Und Mimi, die dachte nicht an Jimmy, die ging mit dem Krimi von Jimmy ins Bett, da kriegte der Schimmie sein Fett, und Mimi liebte Jimmy, und Jimmy war nett.

Und Jimmy ging zu Mimi und fragte, ob Mimi der Krimi von Jimmy gefällt. Und Mimi sagte: „Gimmie, gimmie, gimmie, gimmie viel mehr Krimi!“ Und Jimmy schrieb Mimi ʼnen Krimi und noch einen Krimi und noch einen Krimi, und Mimi ging nie ohne Krimi ins Bett. Und Jimmy ging zu Bett und schaute ʼnen Krimi mit Schimmie und dachte an Mimi. Und Mimi, die dachte nicht an Jimmy, die ging mit dem Krimi von Jimmy ins Bett, da kriegte der Schimmie sein Fett, und Mimi liebte Jimmy, und Jimmy war nett. Und Jimmy liebte Mimi, und Mimi war nett. Und Jimmy und Mimi gaben Schimmie sein Fett. Und Mimi ging nie ohne Krimi ins Bett. Und Jimmy schrieb Mimi ʼnen Krimi. Und Mimi ging mit dem Krimi von Jimmy ins Bett. Und Mimi liebte Jimmy, und Jimmy war nett. Und Mimi ging mit Jimmy ins Bett.

Und Mimi ging zu Jimmy und fragte nach noch einem Krimi. Und Jimmy ging zu Bett und schaute ʼnen Krimi mit Schimmie und dachte nicht an Mimi. Und Mimi sagte „Gimmie, gimmie, gimmie, gimmie, gimmie, gimmie, viel mehr Krimi!“ Und Jimmy dachte: „Ach, wie primitiv.“

zuerst erschienen in: Das Wohnzimmer Nr. 10, Wien 1994; Salbader Nr. 13, Berlin 1994

DRUCKREIF

»Kartoffeln« zu schreiben ist Quatsch. Sie zu kochen ist viel besser. Ja, ja, so ist das.

Manchmal denkt man es sei schwierig, eine gute Geschichte zu schreiben. Dabei ist es ganz einfach. Man denke nur daran, wie man eben noch durch den Park ging, und schon hat man die halbe Geschichte.

Vergessliche Menschen haben es noch leichter. Sie brauchen an überhaupt nichts zu denken. Sie können gleich in den Park gehen.

Und dann der Park: Ein schattiges Plätzchen.

außerdem erschienen in: Agonie Nr. 3, Kusterdingen 1992; Freie Zeit Art Nr. 1, Wien 1992; Humus 42 Nr. 2, Kassel 1992; Martin R. Podlasky (Hrsg.): Metastasen der Seele, Norderstedt 1992; Wohnzimmer Nr. 9, Wien 1994

ICH SCHREIBE KEINE ANTIFASCHISTISCHEN BÜCHER

„Was machen Sie da?“ fragte ein mündiger Staatsbürger einen vollmundigen Burger. Doch der sagte nichts. „He Sie!“ rief der mündige Staatsbürger aufgebracht, „was machen Sie da?“ „Ich schreibe keine antifaschistischen Bücher“, murmelte der vollmundige Burger und leckte sich den Senf von den Lippen.

außerdem erschienen in: Martin R. Podlasky (Hrsg.): Metastasen der Seele, Norderstedt 1992